Ein Wahnsinnsglück
Rendez-vous No. 11

Seit 61 Jahren wohnt Susanne Turotti in der Karl Jaspers-Allee 7. Die langjährigste Mieterin und gute Seele unseres Mehrfamilienhauses im Gellert findet: «Wir haben’s sehr gut hier. Es ist ein Wahnsinnsglück!»

Frau Turotti ist die Liebenswürdigkeit in Person. Für unser Gespräch an einem sonnigen Sommertag ist sie frühmorgens in die Stadt gefahren, um beim Gilgen Konfekt zu besorgen. Sie serviert mir die köstlichen Kleinigkeiten zusammen mit einem Kaffee und strahlt mich erwartungsvoll an. Hinter der zierlichen alten Dame blitzt das junge Mädchen durch.

 

 

Mit ihren 88 Jahren ist Frau Turotti die Älteste im Haus. «Wir schauen hier zueinander und helfen uns gegenseitig», erzählt sie. «Die Jungen tragen uns die Abfallsäcke runter, holen Sachen ab, tragen schwere Dinge. Wir Alten nehmen tagsüber Amazon- und Zalando-Pakete entgegen, während die Jungen arbeiten. Die Jungen sind syydig!» Auch über die beiden kleinen Buben auf ihrem Stockwerk freut sie sich sehr. Überhaupt sieht sie immer das Positive.

Lange Liebe

Das Schwere ist aber auch anwesend: Vor drei Jahren starb ihr Mann Peter. Mit ihm hat sie den grössten Teil ihres Lebens verbracht. «Nun muss ich alleine weiterstrampeln. Ich bin sehr angewiesen auf nette Menschen, und die habe ich zum Glück», erzählt sie. Die Tage sinnvoll zu verbringen, ist nicht immer einfach. «Man muss sich ein Programm machen.» Dazu gehört zum Beispiel, am Samstagvormittag nach Muttenz ins Dorf zu fahren und dort einzukaufen: «Beim Jenzer hole ich das Fleisch für die ganze Woche, am Stand des Birsmattehof kaufe ich Gemüse. Eine Post und eine Bäckerei gibt’s auch gleich daneben», schildert sie ihr Samstagsprogramm. Sie weiss sich zu organisieren.

 

Ein Tagesprogramm kann auch der Gang in die Stadt und auf den Märt zu ihrer Gemüsefrau sein. Die Frühaufsteherin – täglich um halb sechs, ohne Wecker – nutzt die Kühle am Morgen und die leeren Trämli. «Schade nur, dass die Läden erst um neun Uhr öffnen», bedauert sie. Aber viele ihrer Lieblingsläden sind sowieso verschwunden, zum Beispiel der Füglistaller mit dem schönen Geschirr. «Ich bin ja der Lädeli- und Bummeltyp, aber mit den vielen Ladenketten macht es keine Freude mehr.» 

Orchideenliebe

Ihr Radius ist kleiner geworden, weil das Alter seinen Tribut fordert. Kürzlich musste sie ein Kniegelenk operieren lassen; im Winter ist das zweite dran. Vieles musste Frau Turotti aufgeben, weil es zu anstrengend ist, etwa Theater- und Konzertbesuche. Das bedauert sie sehr. Auch ins Museum schafft sie es nur, wenn sie an einem Tag «topfit» ist. Bleiben die Bücher – und die Orchideen. Im Wohnzimmer blühen ein paar besonders schöne Exemplare. Die anderen zeigen sich erst auf den zweiten Blick, denn sie bestehen nur aus grünen Blättern und Luftwurzeln. Ihre vielen verschiedenen Arten pflegt sie mit Hingabe und bringt sie jeden Winter zum Blühen. «Eine Spielerei», sagt sie mit Selbstironie.

Menschenliebe

Ihren Nachnamen hat Frau Turotti von den italienischen Vorfahren ihres Mannes. Um 1900 war dessen Grossvater in die Schweiz gekommen. Sie erinnert sich mit Schmunzeln an den Bergamasker Dialekt ihres Schwiegervaters, den sie nur der Spur nach verstand. Ihr Mann wurde Lehrer für Deutsch, Geschichte und Französisch. Sie arbeitete in der Ciba im Büro – bis ihr Mann sie ein Jahr nach der Heirat fragte, ob sie ihm nicht helfen wolle bei Schullagern und Ausflügen. «Dass ich meinen Beruf aufgegeben habe, war richtig», sagt sie. Es folgte ein reges Leben mit Schülerinnen und Schülern, die auch nach Hause kamen. Bis heute pflegt sie mit vielen den Kontakt.

 

Weil sie Zeit hatte, kamen nach und nach weitere Aufgaben auf Frau Turotti zu: die Pflege naher Verwandter. Dank Fürsorge und Organisationstalent konnten die Eltern und der Schwiegervater weiterhin zu Hause leben. Insgesamt hat sie fünf Verwandte jahrelang umsorgt und gepflegt. Eine unglaubliche Leistung. Auch hier hebt sie die schönen Seiten hervor: «Die Dankbarkeit und die Liebe dieser Menschen hat mir viel gegeben.».

 

Wohnhäuser Karl Jaspers-Allee

 

Text

Claudia Bosshardt

wortgewandt.ch

 

Fotos

Michael Fritschi

foto-werk.ch

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